Christian Huber – Man vergisst nicht, wie man schwimmt

Christian Huber – Man vergisst nicht, wie man schwimmt

Es ist der 31. August 1999. Pascal genannt Krüger und sein Freund Viktor sind 15 und wollen einen der letzten warmen Sommertage genießen. Es wird ein Tag und eine Nacht, die emotional ein ganzes Leben sein könnten: sie haben Spaß, kommen in Gefahr, erleben die erste Liebe, verlieren beinahe ihr Außenseiterimage – aber vor allem wird ihre langjährige Freundschaft gleich mehrfach auf die Probe gestellt. Es ist der Tag, der ihr Leben verändern wird und an den sich Pascal sein Leben lang, selbst als er schon längst erwachsen ist und zurückblickt, erinnern wird, als wenn es gestern gewesen wäre.

Christian Huber ist mit verschiedenen Comedy-Formaten bekannt geworden, auch sein Podcast „Gefühlte Fakten“ gehört zu den erfolgreichsten des Landes. „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ ist ein Coming-of-Age Roman, der die emotionale Achterbahnfahrt der Zeit auf wenige Stunden verdichtet und auch ein wenig Nostalgie ob der Zeit von Oasis, Nokia Handys und unendlichen Sommerferien mitschwingen lässt.

Der Ich-Erzähler Pascal wird von allen nur Krüger genannt, warum bleibt zunächst sein Geheimnis, es muss aber damit zusammenhängen, dass er nicht mehr schwimmen geht und immer auch zwei T-Shirts übereinander trägt. Die schwierigen Familienverhältnisse von ihm und Viktor werden immer wieder angedeutet, im Vordergrund steht jedoch der einschneidende Tag, der minutiös berichtet wird. Es sind ganz banale, typische Erlebnisse, zu denen sich jedoch auch die ganz großen unerwarteten gesellen.

Krüger stößt mit der Ladendiebin Jacky zusammen und die beiden Jungs folgen den faszinierenden Mädchen zu dem Zirkus, mit dem sie durch das Land reist. Am folgenden Tag wird die abreisen und für immer verschwinden – nicht viele Stunden, die reichen jedoch, um in Krüger alles zu verändern.

Der Roman reiht sich in eine ganze Riege von Sommerferienerzählungen ein, die prägend sind für die Protagonisten, für mich in etwa wie Ewald Arenz‘ „Der große Sommer“ und Benedict Wells‘ „Hard Land“. Man folgt den beiden Jungen gerne, durchlebt mit ihnen ihre Abenteuer zwischen jugendlichem Übermut und der bekannten Unsicherheit, die gleichermaßen mit ihr einhergeht.

Große Emotionen, die einem sofort einfangen und mitnehmen auf die Reise durch einen die Welt der Protagonisten verändernden Tag.

Lorenz Just – Am Rand der Dächer

lorenz just am rand der dächer
Lorenz Just – Am Rand der Dächer

1990er Jahre in Berlin. Andrej wächst mit seinen beiden Brüdern und den Eltern in einer Ost-Berliner Altbauwohnung auf. Gemeinsam mit seinem Freund Simon streif der Junge durch das Viertel und beobachtet die Veränderungen, die mit der Wende langsam auf bei ihnen ankommen. Häuser stehen leer, Menschen sind einfach gegangen und haben alles so stehen und liegen lassen, wie es gerade war. Dafür kommen jetzt Besetzer, die sich dort einrichten als sei dies das Natürlichste der Welt. Die Jungen werden älter und mutiger, die abendlichen und nächtlichen Streifzüge werden zu Einbrüchen, bei denen sie auch erfahren, dass das Leben in den heimischen vier Wänden ganz anders aussehen kann. Erste Liebe und große Träume. Amerika, das Sehnsuchtsland, aber weniger konkrete Vorstellungen denn mehr Phantasien, ein Land, das sie sich in ihren Gedanken erschaffen. Die Tage, Monate, Jahre fließen gleichförmig dahin und lassen sich bald schon nicht mehr unterscheiden.

Lorenz Just schildert in seinem Debütroman eine recht typische coming-of-age-Geschichte der 1990er Jahre. Die Eltern durch die großen Umwälzungen im Land selbst überfordert und mit sich beschäftigt, tauchen nur am Rande auf. Als die Kinder noch klein sind, gibt es noch die Angst, dass sie einfach verschwinden und in das andere Land gehen könnten, wie so viele andere, dann aber werden sie zunehmend unbedeutend für die Entwicklung. Die Freundschaften sind es, die Andrej und seinen Bruder Anton prägen, sowie der Traum von dem unbekannten Land, der sie immer weiter von den Eltern entfremdet, wie dies ohnehin in diesem Alter der Fall ist.

„Amerika blieb ein Phantom, das sich ewig entzog. Auf Breakdance und BMX folgte ein jämmerlicher Versuch, Graffiti zu sprühen. (…) Unser Amerika, dem wir mit Basketball, zu groß gekaufter Kleidung und Musik näher zu kommen versuchten, war eher der Modus, den wir uns erwählt hatten, um wir selbst zu bleiben.“

Ein Lebensgefühl von Freiheit einerseits, die jedoch auf die wenigen Straßen um die elterliche Wohnung begrenzt bleibt. Die Sehnsucht nach echter Freiheit, die sich in dem diffusen Traum von Amerika und der Hoffnung auf ein Austauschjahr dort scheinbar realisiert. So intensiv die Zeit erlebt wurde, so wenig ist jedoch von ihr hängengeblieben. Einzelne Episoden, darüber hinaus nur mehr ein nicht greifbares Gefühl, das jedoch immer geprägt war von einer großen Ich-Bezogenheit.

Rückblickend stellt der Erzähler fest, dass er quasi nichts von vielen Freunden wusste, obwohl sie Stunden täglich miteinander verbrachten; dass ihn die Magersucht der eigenen Freundin völlig überrascht hat, als wenn diese aus dem nichts auftauchen habe können; dass eine gespielte Coolness sie daran hinderte über das zu reden, was wichtig gewesen wäre. Ein recht resigniertes Fazit, das jedoch für mein Empfinden zu hart ist. Die Teenagerzeit ist nun einmal so, es ist nicht die Zeit, in der Jungs über Gefühle reden oder ihre Träume hinterfragen würden.

Genau hier liegt für mich die Stärke des Romans, er wirkt unglaublich authentisch und ist nah bei den Figuren. Trotz der rückblickenden Distanz des Erzählers urteilt er nicht über sie, sondern lässt sie genau das sein, was sie sind und das hat der Autor hervorragend eingefangen. Der Roman ist nicht urkomisch, wie es Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ bisweilen ist, auch nicht so traurig wie Carmen Buttjers Roman „Levi“, der eine ähnliche Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines Jungen, der in einer Blase lebt, einer Zeit, die es so nie mehr geben wird und die er auch nie mehr erleben kann, die intensiv war, aber von der vieles nur noch bruchstückhaft in Erinnerung geblieben ist – genauso ist es, das Leben. Aber immerhin kann man über literarische Leben nochmals in diese Zeit der Sorglosigkeit und des Glaubens an die eigenen unbegrenzten Möglichkeiten eintauchen und das ermöglicht einem Lorenz Just auf ganz eindrucksvolle Weise.

Manja Präkels – Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Manja Präkels - Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß
Manja Präkels – Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Mimi Schulz wird in die geordnete Welt einer Kleinstadt im Havelland hineingeboren. Der äußere Rahmen wird durch die DDR bestimmt, der familiäre durch die Krankheit des Vaters und die Linientreue der Lehrerinnen-Mutter. Als Kind spielt Mimi gerne mit Oliver, er wohnt nebenan und so verbringen sie die Freizeit und Familienfeste zusammen, bei denen sie den Erwachsenen die Schnapskirschen klauen. Doch mit dem Mauerfall ändert sich einiges in der Ordnung der Stadt. Die vormals Begünstigten haben plötzlich das Nachsehen, viele fühlen sich von der neuen BRD und ihrem Kapitalismus im Stich gelassen, wozu noch Pläne machen für eine Zukunft, die außer Ungewissheit nichts mehr bietet? Plötzlich tauchen Nazis auf, Schlägergruppen, die auf alles eindreschen, was nicht rechtzeitig davonlaufen kann. Oliver gehört auch zu ihnen, er ist jedoch kein Mitläufer, sondern ihr Anführer, ehrenvoll „Hitler“ genannt. Und so wird der Kindheitsfreund plötzlich zum ärgsten Feind.

Manja Präkels hat für ihren Debütroman den Deutschen Jugendliteraturpreis sowie den Anna-Seghers-Preis 2018 erhalten. Ich hätte das Buch nicht per se als Jugendbuch klassifiziert, auch wenn es sicherlich auch Jugendliche anspricht. Dass es jedoch beide Auszeichnungen verdient hat, steht völlig außer Frage, denn der Autorin ist gelungen, sowohl die kindlich-verklärte DDR-Idylle wie auch die Wende und die schwierigen 90er Jahre einzufangen ohne zu werten und ohne die Figuren für ihre Gedanken oder ihr Handeln abzuurteilen.

Mimis Kindheit ist recht sorgenfrei, wie dies glücklicherweise für die meisten der Fall ist. Die großen Zusammenhänge bleiben ihr verborgen, sie ist zwar eine fleißige Schülerin, was sie aber nicht von gelegentlichen Ausrutscher und Ausbrüchen bewahrt. Sie wächst heran zur Jugendlichen, die ersten näheren Begegnungen mit Jungs verlaufen eher weniger zufriedenstellend und die Dimension der Wende erschließt sich ihr eher im Kleinen mit veränderten Zukunftsplänen als in ihrer globalen Relevanz. Doch plötzlich wird die Idylle durchbrochen: die Menschen verändern sich, der Einfluss des Westens wird sichtbar und Mimi fragt sich:

Was mit unserem Land, der DDR, geschah, war aus der Froschperspektive schwer zu überblicken. Niemand sprach mehr von ihr. Waren wir noch da? Es hatte freie Wahlen gegeben. Mein neuer Reisepass wies mich als Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik aus. Aber alle redeten nur von Deutschland und meinten die BRD. Karl-Marx-Stadt hieß jetzt Chemnitz.

Doch diese Verunsicherung ist es nicht, die alles ändern wird, sondern das, was ihr Freund Zottel treffsicher auf den Punkt bringt:

Die Südafrikaner hatten gerade die Apartheid abgeschafft, aber, wie Zottel bei jedem unserer Treffen zu bemerken pflegte: »Bei uns jibt’s jetz endlich wieder Nazis. Prost!«

Zunächst sind nur die Ausländer Ziel ihrer Angriffe, dann aber auch zunehmend all jene, die den alten Staat verkörpern oder die nicht zu ihnen gehören. So wie Mimi. Es sind nicht irgendwelche Leute, die sie beschimpfen und jagen. Es sind junge Erwachsene, die sie kennt, mit denen sie als Kind gespielt und in der Jugend gelacht hat. Es dauert, bis ihr die Lage wirklich bewusst wird und als sie sich der Thematik journalistisch nähert, bringt sie sich in Lebensgefahr.

Es fällt nicht schwer mit Mimi zu sympathisieren, auch ihr Staunen ob der Veränderungen und ihre Verunsicherung und Orientierungslosigkeit sind leicht nachzuvollziehen und werden von Manja Präkels authentisch und glaubwürdig geschildert. Die Jagdszenen der Neonazis sind nicht einfach zu ertragen, man erinnert sich an die Bilder aus den 90ern und starrt umso ungläubiger auf die aktuellen Nachrichten. Wenn Literatur etwas bewegen kann, dann solche Bücher, die keine Ideologie vorgeben, nicht mit erhobenem Zeigefinger den rechten (und nicht politisch rechts-außen) Weg zeigen, sondern alternative Denkweisen anbieten und Raum für Emotionen lassen, die in Zeiten großer Verunsicherung nun einmal nicht zu leugnen sind.

Auch wenn die Thematik an Ernsthaftigkeit kaum zu überbieten ist, ist er doch über weite Strecken auch leicht und unterhaltsam. Auch wegen der Thematik erinnert er mich an die Romane von Thomas Brussig, der ebenfalls das Verbindung von unterhaltsam und dennoch relevant leichtfüßig gelingt. Ein rundum überzeugender Roman, der weiteren Werken der Autorin gespannt entgegenblicken lässt.

Arthur Isarin – Blasse Helden

Blasse Helden von Arthur Isarin
Arthur Isarin – Blasse Helden

Russland in der Post-Sowjet und vor-Putin Zeit. Oligarchen bedienen sich schamlos am Reichtum und den Bodenschätzen des Landes. Das Geld fließt in ihre Taschen wie abends der Champagner in die Münder fließt. Geschäfte dienen den Reichen, der unteren Hälfte der Gesellschaft bleibt nur der Kampf ums Überleben. Anton entflieht dem Westen, wo sogar Revolutionen friedlich und freundlich verlaufen und stürzt sich in die Moskauer Geschäftswelt. Für den Unternehmer Paul Ehrenthal kümmert er sich um das Kohlegeschäft und löst Probleme, wo sie entstehen: mal in Sibirien, mal in der Ukraine. Schnell lernt der Deutsche sich anzupassen, ohne politische Meinung und als Ausländer wird von ihm nicht viel erwartet und er kann in den 1990ern ein lockeres und entspanntes Leben führen. Doch die Zeiten ändern sich und irgendwann muss auch Anton sich entscheiden.

Arthur Isarins Roman ist ein Blick in eine Gesellschaft, die losgelöst vom staatlichen System ihre eigenen Gesetze entwickelt hat und in der alles möglich scheint. Aus heutiger Sicht mit fast 20 Jahren Putin-Herrschaft, ist das Land nicht wiederzuerkennen, verheißungsvoll waren die Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die ersten Schritte im Kapitalismus, die jedoch die Versprechungen nicht halten konnten.

„Blasse Helden“ fängt den Rausch ein, in dem sich diejenigen befanden, die sich schnell umgestellt und mit den neuen Begebenheiten arrangiert hatten. Anton lebt in einer Blase aus Macht und Spaß-Gesellschaft; er hat keine Verpflichtungen und schafft es, sich lässig zwischen den Russen zu bewegen. Die notwendigen Konventionen hat er schnell übernommen, die Moral über Bord geworfen und sich so gemütlich in seinem Dasein eingerichtet. Man bekommt einen Blick in die Geschäftssitten, die klar auf Gewinnmaximierung und Ignoranz etwaiger Gesetzte ausgerichtet sind. Wen man kennt, ist entscheidender, als was man kann.

Schnelllebig wie die damalige Moskauer Zeit liest sich auch das Buch, rasant schreiten die Jahre voran, die Welt außerhalb Antons Kosmos erscheint jedoch immer wieder am Rand. Hier lernt man das andere Moskau, das andere Russland kennen. Armut, Bestechung, Vetternwirtschaft, notwendige Prostitution – die negativen Begleiterscheinungen des Kapitalismus bleiben nicht aus und selbst Anton kann sie nicht gänzlich ausblenden.

Auch wenn der Ton bisweilen ironisch oder gar sarkastisch wird, man spürt den Schmerz eines Erzählers, der das Land liebt und sieht, wie es vor die Hunde geht. Die Menschen haben schon immer viel ertragen und stoisch werden sie das auch weiterhin tun. Es schwebt jedoch die Frage über allem, wieviel ein Volk tatsächlich aushalten kann, bis es sich erhebt. Kommunistische Unterdrückung gefolgt von Ausbeutung durch Oligarchen, beide Extreme haben es dem kleinen Mann nicht leicht gemacht und die Versprechungen wurden nie erfüllt – muss ein starker Mann im Kreml da die Lösung sein? Arthur Isarin lässt einem nachdenklich zurück. Ein berauschendes Buch, dessen Nachwirkung ein Kater ist.

Ein herzlicher Dank geht an die Verlagsgruppe Random House für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Titel finden sich auf der Verlagsseite.